Mein Gottfried Walter
Ein Satz ist mehr als ein Satz Wörter.
Gottfried Walter
Binsen sagte viele von dieser Sorte. Er glaubte fest, das gelte für
jeden Satz. Ich blieb da immer skeptisch, es gibt so viele dumme und banale
Sätze. Ich denke, er ging zu sehr von sich selbst aus. Aber er war
klüger als ich, und deshalb hatte er wahrscheinlich recht.
Und weil er klüger war als ich (was ich schon daran erkannte, daß er
es immer bestritt), wollte er auch nie, daß seine Sätze aufgeschrieben
werden. Er meinte, wenn jemand gut zuhört oder gut liest, werden der
Satz und seine Bedeutung eins. Wenn jemand nur schlecht zuhört, entgeht
ihm der Satz einfach. Wenn jemand aber schlecht liest ... dann hat er Zeit, beide
zu zerstückeln, den Satz und seine Bedeutung.
Gottfried las nie, und er schrieb nie.
Ich lernte ihn vor einigen Jahren in Karlsruhe kennen, als ich
meinen Leuten zu Gefallen an der Uni eingeschrieben war, in Wahrheit aber
nichts anderes studierte als die hohe Kunst des Nichtstuns.
Vielleicht ist dies das schwerste aller Fächer, jedenfalls war es letztlich zu schwer für
mich. Und wenn ich nicht einen so brillanten Meister darin gefunden hätte,
hätte ich es vermutlich schon viel früher aufgeben müssen.
Damals war ich jedenfalls ein vielversprechendes Talent. Das Erste, was
man zum Nichtstun lernen muß, ist das Reisen. Das wußte ich instinktiv.
Wenn man zu diesem Zweck wegfährt, was naheliegend erscheint, ist das Reisen zwar leichter zu lernen, aber man vergißt
die Lektionen auch schneller. Denn es geht nicht um Entfernung, sondern um den Blick auf die Dinge. Wer in einem Zug sitzt, der ihn weit weg bringt, wer in einer fremden
Stadt umherstreift, wo er kein Wort versteht, der sieht anders, redet anders, lebt anders. Doch daheim in der Straßenbahn,
in der eigenen Stadt, geht das ganz schnell wieder verloren.
Ich fragte mich, woran
das liegt. Und ich beschloß, dieses Etwas, das Geheimnis des Reisens,
auch zu Hause zu finden, wenigstens für kurze Augenblicke. Darum spazierte
ich viel in der Stadt herum, versuchte zu vergessen, wo ich war und daß
ich alles, was ich sah, schon kannte.
Und manchmal, wenn die Sonne tief stand, und ein
Haus, sein Schatten und eine Wolke sich zu etwas Neuem zusammentaten, fand
ich es. Das Gefühl etwas noch nie gesehen zu haben, gepaart mit dem
Wissen, daß ich es auch nie mehr sehen würde. Dann war ich ganz
da, wo ich war. Dann war ich ganz da. Dann war ich ganz.
Ich arbeitete hart an diesem Blick des Reisenden. Aber bevor ich Gottfried traf, war mir das noch nicht
klar, ich dachte, ich sei faul. Und das machte mir oft zu schaffen.
An jenem trüben Oktobernachmittag war es besonders schlimm.
Mittags war ich bei meiner Mutter zum Essen gewesen und - wie so oft -
später gekommen als verabredet. An guten Tagen hatte sie anderes im
Kopf und ging lächelnd darüber hinweg, auch wenn es eine ganze Stunde war. Dann aßen wir zusammen
und redeten. Manchmal aber sah sie darin ein übles Symptom. An diesem
Tag war ich bloß zwanzig Minuten zu spät, doch das genügte.
Ich brauchte nur ihren Blick zu sehen, als die Tür aufging, und wußte:
sie hatte schon gegessen. Es herrschte Schweigen. Ich setzte mich an den
Tisch, die Augen auf den Teller gerichtet und löffelte schuldbewußt
meine kalt gewordene Suppe, während sie daneben saß und mir
langsam ihren Blick durch die Schädeldecke schraubte. Sie war nicht
wütend. Wie hätte ich mir das gewünscht! Dann hätte
ich mich wehren können. Nein, sie war enttäuscht. Enttäuscht
und besorgt. Ich glaube, sie konnte den Kloß in meinem Hals wachsen
fühlen, sie besitzt ein großartiges Timing in diesen Dingen,
denn genau als er ausgewachsen war, legte sie los.
»Ich verstehe das nicht.« Sie pickte ein paar Krümel
von der Tischdecke.
»Ach, Mama.«
»Nein. Nicht Achmama. Mir tut das weh. Du bist einfach
lieblos.«
Das war ihr zweitbester Stich, und er saß fast immer.
Ich sah aus dem Fenster. Ich wollte zu meinem Mädchen, und sie fragen,
ob das wirklich stimmte. Bin ich lieblos? Aber sie liebte mich ja, was
konnte da ihre Antwort gelten? Ich sah meine Mutter an. Wie sollte ich
ihr erklären, was in mir vorging? Sie würde mich nicht verstehen.
Ich sagte:
»Du weißt doch, daß das nichts mit dir zu tun
hat. Ich habe gelesen, und dabei vergessen auf die Uhr zu sehen.«
»Ja!« Jetzt wurde sie laut. »Ja, ich weiß.
Das ist es ja. Es hat mit niemandem zu tun. Du hast mit niemandem zu tun.
Du übernimmst einfach keine Verantwortung, nicht einmal dieses bißchen.
Nicht einmal mir zuliebe.«
Ich wollte ihr gerade innerlich Recht
geben, einlenken, um vielleicht doch die Wahrheit zwischen unseren Positionen
aufzuspüren, als sie hinzufügte:
»Du wirst genau wie dein Vater.«
Das war mein Stichwort.
Ich nahm meine Mütze und ging.
Als ich an der Haltestelle ankam, fing es an zu regnen. Darum stieg ich
in die erstbeste Bahn, es war die 23. Die 23 fuhr nach Oberreuth. Eine in den Sechzigern oder
Siebzigern angelegte Sammlung von Betonquadern, der verrufenste Stadtteil von Karlsruhe. Dort riecht es nach Kohlestaub, Arbeiterschweiß
und Verzweiflung, so war meine Überzeugung. Dort gewesen war ich allerdings noch nie.
Wer den Tod nicht scheut, geht nach Oberreuth
heißt es in der Stadt, und dieser Satz klebte mir in den Haaren wie
ein alter Kaugummi, während ich zusah wie der Regen gegen die beschlagenen
Scheiben tickte und sich mit dem Rhythmus der Straßenbahn vermischte.
Es waren wenig Leute in der Bahn, und jeder starrte hohl durch das kleine
Loch, das er sich am Fenster freigewischt hatte. Ich betrachtete die alte
Frau, die mir gegenübersaß, und die mit ihren knotigen Händen
unentwegt helle Fussel von ihrem schwarzen Kleid zupfte.
Diese Arbeit würde
nie getan sein, und ich bewunderte aufrichtig ihre Ausdauer. Oder vielleicht doch
nicht so aufrichtig, denn gleichzeitig war ich mir sicher, dass die Frau einfältig war.
Ich verzog das Gesicht und wußte
nicht, ob ich lächelte oder grinste.
Wer den Tod nicht scheut,
geht nach Oberreuth.
Ich fragte mich, ob die Alte wohl wirklich den
Tod nicht scheute oder ob sie noch vor Oberreuth aussteigen würde.
Plötzlich wurde diese Überlegung ernst. Wie war das mit mir?
Hätte ich den Mut bis zur Endstation zu fahren? Lieblos wie ich war?
Mir war klar, daß es albern war, sich auf einen so dummen Spruch
in dieser Weise einzulassen, doch ich fühlte auch, daß es irgendwie
gefährlich war, und darum tat ich es. Ich fuhr ganz durch.
Nur die alte Frau in Schwarz stieg mit mir
aus, spannte ihren Schirm auf und trottete davon. Die Bahn fuhr zurück.
Ich blieb allein im Regen stehen, ohne Schirm, und fragte mich, ob ich
völlig bescheuert war. Was zum Teufel machte ich hier? Ich klappte
den Kragen hoch und ging zum Fahrplan, um zu sehen, wann die nächste
Bahn zurück in die Stadt fuhr. Doch der gelbe Ständer war leer. Niemand wartete,
und ich machte mir klar, daß ich mindestens mit einer halben wenn
nicht einer ganzen Stunde Wartezeit rechnen mußte. Hier am Arsch der Stadt,
und da war nicht einmal ein Wartehäuschen!
Dann fiel mir wieder ein, dass ich ja ein Reisender war.
Ich blickte mich um. Regendunst und Zwielicht. Es
gab keine Farben und keine Feinheiten. Die mannshohe Ligusterhecke hinter
mir war schwarz, dahinter hörte ich die Autobahn. Vor mir erhob sich
ein Schallschutzwall, der mit kahlen Büschen und nassem Laub bedeckt
war. Die Hecke und der Wall säumten die Bahnlinie, bis sie sich in
der Unendlichkeit mit ihr vereinten, dort wo die Stadt war. Auf der anderen
Seite, auf meiner Seite, endete alles mit den Schienen. Hier begann ein enger Pfad, der zu den grauen Hochhäusern führte.
Ich spürte, daß die Tropfen
schwerer wurden, und die Luft wurde drückend und klebrig. Der Himmel
zog sich weiter zu. Es ging schnell. Plötzlich kam die erste Bö,
die zweite riß mir schon die Mütze vom Kopf.
Dann krachte der Donner, sofort darauf zuckte der Blitz.
Ich lief los, hinein nach Oberreuth, einfach
nur hinein, um mich irgendwo unterzustellen und zu warten, bis es vorbei
war.
Normalerweise fürchte ich mich nicht vor Gewitter, denn ich habe
in der Schule aufgepaßt und weiß, daß mir nichts passiert,
solange mein Kopf nicht der höchste Punkt in der Gegend ist. Doch diesmal
hatte ich Angst, denn genau das war das Problem.
In ein und dem selben Moment wurde mir klar, dass ich mich für den klügsten Menschen der Welt hielt -
und dass mich dafür der Blitz treffen würde. Und ich bildete mir das nicht nur ein. Hatten Sie schon einmal einen Autounfall?
Kennen Sie das, wenn die Zeit plötzlich unendlich lang oder kurz wird, irgendwie unwichtig, und man ganz genau weiß, was auf einen zukommt? Ich hatte Angst.
Und ich rannte. Ich nahm nichts wahr, außer vorbeifliegenden
Wänden und dem Takt meiner Füße. Ich rannte wie ein Irrer,
weil ich überzeugt war, wenn ich stehenbleibe, trifft mich der Blitz.
So rannte ich eine ganze Weile blindlings durch die menschenleeren Straßen,
in panischer Angst. Endlich sah ich den Baum, und er kam mir vor wie ein Wunder,
eine uralte Erinnerung. Wie der allererste Baum.
Ich glaube es war eine
Linde, vielleicht aber auch ein Apfelbaum, ich kenne mich da leider nicht
aus. Er war noch dicht belaubt und grün, und in seinem Schatten stand eine alte Bank,
deren abblätternder rosafrabener Lack früher einmal rot gewesen sein mochte.
Die beiden, Baum und Bank, standen mitten auf einem großen gepflasterten Platz, umringt von Wohnblocks aus Beton.
So als hätte jemand einen Park anlegen wollen und es dann doch bei einem wunderschönen Symbol dafür belassen.
Ich rannte darauf zu, und die Angst war weg. Auf einmal hatte ich Zeit. Ich
verlangsamte meinen Schritt, um die Freude auszukosten, daß ich gleich
in Sicherheit war. Es donnerte direkt über mir, als ich mich hinsetzte. Ich schloß die Augen.
Ich fühlte mich wohl und wartete darauf, daß
mich der Blitz treffen würde.
»Haben Sie einen Hund?« fragte eine Stimme.
»Nein«, antwortete ich ohne die Augen zu öffnen.
»Nicht einmal einen Dalmatiner?«
»Nein« sagte ich abermals und öffnete die Augen.
Neben mir saß ein Mann, der alt aussah und es doch nicht war, oder
umgekehrt. Es hat keinen Sinn, ihn beschreiben zu wollen, denn er sah jedesmal,
wenn ich ihn später traf, irgendwie anders aus, vielleicht zog er
sich immer ganz unterschiedlich an, ich weiß es nicht. Ich achtete
eigentlich nur auf seine eigenartige Brille, hinter der ich mühsam
die Augen erahnte. Er räusperte sich.
»Oh«, sagte er, »dann sind sie also einer von
uns?«
Nicht daß ich gewusst hätte, worauf er hinaus will, aber die Frage
freute mich aus irgendeinem Grund, darum sagte ich:
»Nein. Aber ich
versuche es«, und lächelte.
Er streckte mir die Hand hin.
»Ich bin Gottfried. Universalspezialist.«
Ich stellte
mich ebenfalls vor, doch das erwies sich als ziemlich überflüssig,
denn in der ganzen Zeit, in der ich ihn kannte, nannte er mich nie anders
als WiesagtenSienoch. Ich starrte auf seine dunkle Brille.
»Gefällt sie Ihnen?« fragte er, »Meine Brille?«
Ich hatte in diesem Moment keinen Zweifel, daß er Gedanken lesen konnte.
»Es ist eine
Zauberbrille, ein Wunder des Fortschritts. Wenn die Sonne daraufscheint,
verdunkeln sich die Gläser. Das funktioniert irgendwie magisch oder
chemisch, was weiß ich. Wenn es düster wird, werden sie wieder
hell.«
»Aha«, sagte ich und betrachtete den pechschwarzen
Himmel, das Grollen und Tosen der Dunkelheit. Er folgte meinem Blick und
sagte:
»Naja, ich verstehe, was Sie meinen. Jetzt weiß ich selbst nicht mehr so recht. Vielleicht hätte ich mir so einen Mist
nicht kaufen sollen.«
Ich war mir nicht sicher, ob er sich wirklich
darüber ärgerte oder nur so tat. Ich konnte nie ganz schlau aus
ihm werden. Dazu ließ er mir auch gar keine Zeit.
»Wußten Sie, daß alles menschliche Wissen nur
innerhalb einer von Menschen geschaffenen Denkordnung entstehen kann?«
Ich glotzte ihn an, dann nickte ich zaghaft.
»Logik, Sprache, Fußball, solche Systeme meine ich,
Sie verstehen. Sie sind alle voneinander unabhängig, und doch haben
Sie ein Wesentliches gemeinsam, etwas, das sie fest verbindet: sie beruhen
auf grundlegenden Annahmen.«
»Axiomen?« sagte ich.
»Gesundheit!« sagte Gottfried. Er hielt mir beiläufig
ein rotkariertes Taschentuch hin und fuhr fort:
»Unbewiesenen Annahmen - wohlgemerkt - unbeweisbaren! Das
bedeutet: Jede Wahrheit beruht im Grunde auf einer geglaubten Lüge.«
Das war der erste von den Sätzen, an denen ich hängenblieb. Er
sah mich an und kicherte über mein dummes Gesicht. Dann sagte er:
»Nehmen Sie zum Beispiel den Mathematik. Ich sage den,
denn natürlich ist er männlich. Er glaubt an die 1.«
»Mhm.«
»Die 1 ist die Urzahl, die Zahl an sich. Wenn es sie nicht
gäbe, dann gäbe es die anderen Zahlen auch nicht, klar?«
»Klar.«
»Aber finden Sie mal etwas, das eins ist, und jemand anders
findet irgendeine Art von Hammer, der groß oder klein genug ist,
und macht ∞ daraus.«
Mein Schweigen verstummte hier vollends. Ich hatte nicht gewusst, dass einem jemand, den man für eine Penner hält, etwas über die Unendlichkeit erzählen kann.
Gottfried fuhr fort:
»Das ärgert den Mathematik natürlich, schließlich
steht sein ganzer riesiger, prachtvoller Körper auf diesem einen Staubkorn
namens 1. Deshalb hat er sich einen Arm in die wirkliche Welt wachsen lassen:
den Physik. Mit ihm tut er eigentlich nichts anderes, als in der Welt nach
der 1 zu suchen, denn das ist es nun mal, was Männer tun. Er sucht im Größten wie im Kleinsten. Und wissen Sie
was das Komische daran ist?«
Ich zuckte die Achseln.
»Er findet immer wieder Nützliches dabei heraus. Natürlich
niemals das, was er eigentlich sucht. Darum sucht er immer weiter.
Und das ist der eigentliche Witz an der Sache: Wenn er sie finden könnte,
seine 1, dann hätte er doch nur sich selbst bewiesen. Das könnte man
auch einfacher haben.
Und doch kann man es nicht.«
Jetzt erst machte er
eine Kunstpause und ließ es in mir arbeiten. Ich glaube, er las in
meinem Kopf mit, denn genau an der richtigen Stelle, einige Minuten später,
hakte er wieder ein:
»Frauen haben es nicht so mit Mathematik, denn sie mißtrauen
der 1. Und zwar deshalb, weil sie stirbt. Das wirkliche Leben beginnt erst bei zwei.«
Und damit hatte er es geschafft. Ich saß einfach nur da und grinste
den Himmel an, im selben Moment, als die Wolken aufrissen und die Sonne
durchbrach. Mir war als sehe ich alles gleichzeitig scharf, von Augenwinkel
zu Augenwinkel, und ich hörte über mir im Baum einen Sperling
furzen.
Gottfried guckte auf seine Armbanduhr, hielt sie kurz ans Ohr und
sagte:
»Ich gehe jetzt nach Hause, es kommt was im Fernsehen.«
Damit verschwand er und ließ mich sitzen. Ich brauchte einen Moment,
um mich darauf zu besinnen, was an seiner Uhr ungewöhnlich gewesen war. Dann fiel
es mir ein: es fehlten die Zeiger.
Ich stand auf und fuhr zu meiner Mutter.
Das war unsere erste Begegnung, und es sollten noch viele folgen,
denn ich kam wieder und Gottfried auch. Wir saßen immer auf derselben
Bank, und er sagte Dinge, die nicht zusammenpassten, und nicht zu dem passten,
was ich sagte, aber wenn ich aufpasste, hörte ich immer eine Antwort
darin. Manchmal verwirrte er mich auch nur.
Ziemlich bald kam ich auf den
Gedanken, einiges aufzuschreiben, wenigstens die Sätze, an denen ich
hängenblieb. Doch als ich ihn um Erlaubnis fragte, wurde er zornig
und rief:
»Laß es sein. Der Aphorismus ist die Brille des Blinden.«
Heute denke ich, er wußte sehr wohl, daß er mich mit diesem
Verbot erst richtig auf die Idee brachte: Aphorismen waren das, natürlich!
Gegen seinen ausdrücklichen Willen beschloß ich, sie zu sammeln.
Weil ich in seiner Gegenwart nicht schreiben durfte, mußte ich mich
nach unseren Gesprächen daran erinnern, was nicht einfach war. Wenn
ich darüber nachdenke, wie ich sie in meiner Vergesslichkeit verfälscht
habe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, und das will ich mir auch bewahren.
Doch wenn es allzu schlimm wird, weiß ich immerhin: Ich sammelte
so gut ich konnte.
Dann kam der Tag, an dem Gottfried nicht kam. Ich wartete lange auf ihn, doch als ich an diesem
Abend nach Hause fuhr, wußte ich, er würde nie mehr kommen.
Und ich wußte, das war traurig und gut.
Heute kann ich mich kaum
noch an Gottfried erinnern, aber immer wenn ich unter einem Baum sitze,
kann ich ihn fühlen. Und im Rauschen der Blätter höre ich dann
Sätze wie diesen: Eine gute Lüge nennt man Geschichte. Und Geschichten muß man glauben wie ein Kind.
Ich bin froh, daß ich seither nie wieder den
Donner gehört habe bevor es blitzte.
Mai 1999
Markus Spang
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